Jeden Tag treffen unzählige Schalleindrücke auf unsere Ohren. Wir Menschen können genau orten, woher jeder Schalleindruck kommt und das nicht nur ungefähr. Wir sind in der Lage genau zu orten, wie hoch, wie weit links oder rechts, vorne oder hinten, und wie nah ein Schallereignis ist. Denn das Ohr ist in vielen Aspekten sogar genauer als das Auge. Wie genau wir Menschen Schallquellen lokalisieren und wie das funktioniert, erfahren Sie hier.
Warum orten wir Schall?
Schon in der Frühzeit der Menschen war es extrem wichtig, gut zu hören. Das Sehvermögen des Menschen reicht insbesondere bei Gefahr oft nicht aus. Denn wir können viel schneller auf auditorische Reize reagieren, als auf visuelle. Wenn es hinter Ihnen knallt, drehen Sie den Kopf, um das gehörte Ereignis auch sehen zu können. Und je genauer Sie den Schall orten, desto besser können Sie auf die Situation reagieren. Der Straßenverkehr ist heute ein omnipräsentes Beispiel.
Wie orten wir Schall?
Genau wie für das räumliche Sehen, zieht unser Gehirn für das räumliche Hören fast ein Dutzend Parameter heran. Am besten können wir orten, wie weit links oder rechts eine Schallquelle liegt. Das funktioniert primär durch Laufzeitunterschiede und Pegelunterschiede zwischen den Ohren. Diese werden auch als Interaural Time Difference (ITD) und Interaural Level Difference (ILD) bezeichnet. Ob ITD oder ILD zur Ortung des Schallereignisses genutzt werden, ist abhängig von der Frequenz. Zwischen 80 und 800 Hz ortet der Mensch den Schall durch Laufzeitunterschiede.
Laufzeitunterschied (ITD)
Da Schall viel langsamer ist als Licht, kann er an einem Ohr etwa 740 Mikrosekunden früher ankommen, als an dem anderen. Unglaublich, aber wahr: Das reicht unserem Gehirn, um auf fast einen Grad genau zu lokalisieren, wie weit links oder rechts sich eine Schallquelle befindet:
- Eine Schallwelle trifft bei den Ohren oft zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt ein.
- Ist die Schallquelle auf der linken Seite, hört das linke Ohr den Schalleindruck zuerst und umgekehrt.
- Jede Frequenz der Schallwelle lenkt an einer anderen Stelle im Innenohr Haarzellen aus.
- Neuronen im Hörnerv feuern immer etwa dann, wenn die Auslenkung der Haarzelle maximal ist.
- Das Gehirn überprüft, ob die Neuronen des linken oder rechten Ohrs früher feuern.
- Dabei kann das Gehirn Unterschiede von wenigen Mikrosekunden ausmachen.
Dies funktioniert aber nur, wenn der Schall tieffrequent genug ist. Werden die Haarzellen über circa 1000 Mal pro Sekunde ausgelenkt, feuern die Neuronen zu unpräzise, und das Gehirn kann nicht mehr eindeutig festmachen, ob die Neuronen des linken oder rechten Ohres früher feuern. Ab etwa 1600 Hz ortet der Mensch daher mit dem Pegelunterschied.
Pegelunterschied (ILD)
Dass Hindernisse einen Lichtschatten werfen, ist Ihnen sicherlich klar. Aber einen Schallschatten? Sie können ein Geräusch doch selbst dann hören, wenn eine Säule im Weg steht, oder? Jein: Auch Schall kann winzige Schatten werfen. Je höher die Frequenz, desto größer dieser Schatten. Dies nutzt das Gehör zum Orten:
- Um sich vollständig um ein Objekt herum zu beugen, muss die Schallwelle die doppelte Länge des Gegenstandes haben. Die Wellenlänge von 1600 Hz ist ca. 21 cm und somit zu klein, um sich um die meisten Köpfe herumzubiegen.
- Der Kopf wird damit zum Hindernis und reflektiert und absorbiert die Schallwellen, da der menschliche Körper gute Absorptionseigenschaften bei hohen Frequenzen hat. Andere gute Möglichkeiten Schall zu absorbieren können Sie in unserem Artikel zum Absorber Selber Bauen nachlesen.
- Auf der anderen Kopfseite kommt jetzt ein geringer Pegel an.
- Dies nutzt das Gehirn, um den Ort des Schallereignisses zu bestimmen. Je nachdem wie groß der Pegelunterschied ist, kann das Gehirn erkennen, wie weit links/rechts ein Schallereignis auftrat.
Bei allen Frequenzen zwischen 800 Hz und 1600 Hz wird eine Kombination von ITD und ILD benutzt. Unter 80 Hz kann der Mensch Schall fast gar nicht orten. Für die Schallquellenortung zieht unser Gehör auch andere Faktoren heran. Denn ILD und IDT reichen nicht, um Entfernungen oder die Höhe einer Schallquelle einzuschätzen, oder um vorne und hinten zu unterscheiden. Dazu benötigen wir auch:
- Lautheit: Ist eine Schallquelle besonders nahe, klingt sie besonders laut. Diese offensichtliche Tatsache hilft vor allem, um die Entfernung uns bekannter Klänge und Geräusche einzuschätzen.
- Nachhall: Ist eine Schallquelle weit weg, klingt der Nachhall verhältnismäßig laut. Besonders in Innenräumen können Sie dies beobachten.
- Brillianz: Je höher eine Schallfrequenz, desto dichter liegen Über- und Unterdruck der Schallwelle beieinander. Unterschiedliche Drücke haben unterschiedliche Temperaturen. Diese gleichen sich aus. So entzieht der Wärmeaustausch der Schallwelle Energie und so klingen weit entfernte Schallquellen dumpfer.
- Bass: Besonders bei kleinen Schallquellen verbleibt die Energie tiefer Frequenzen in unmittelbarer Nähe und breitet sich nicht als Welle aus. Daher haben Ihre In-Ear-Kopfhörer nur dann Bass, wenn Sie nicht mehr als einige Zentimeter von Ihrem Ohr entfernt sind.
- Sehen: Schall bedeutet Bewegung. Sehen wir, wo ein Glas zu Boden fällt, orten wir das Klirren genau dort. Dieser Effekt ist so stark, dass wir meinen, die Puppe spricht, weil ihre Mundbewegung viel deutlicher zu sehen ist, als die des Bauchredners oder der Bauchrednerin. Diese auditorische Illusion nennt man Bauchreder-Effekt.
- Fühlen: Spüren Sie auf der rechten Wange die Hitze einer Explosion, orten Sie den Knall vermutlich rechts. Spüren Sie einen Luftzug im Nacken, während Sie ein Pust-Geräusch hören, orten Sie das Geräusch auch hinten. Multimodalität spielt in der Orientierung von Menschen eine große Rolle.
- Klangfarbe: Durch das unterschiedliche Abdämpfen und Reflextieren an den Ohrmuscheln entstehen unterschiedliche Klangfarben in beiden Ohren, die wie ein richtungsabhängiger Equalizer wirken und vor allem zur Unterscheidung vorne/hinten und oben/unten helfen.
Die meisten Parameter, die unser Gehör zum Orten von Schall heranzieht, sind in der so-genannten Kopfbezogenen Übertragungsfunktion (Head-Related Transfer Function, HRTF) enthalten. Dabei sind die ILD und ITD für alle Menschen etwa gleich. Jedoch sind die Klangfarben-Muster so individuell, dass der perfekte 3D-Sound via Kopfhörer nur dann gelingt, wenn Ihre individuelle HRTF bekannt ist.
Quellen zur Schallquellenlokalisation
Ziemer, Tim: Psychoakustische Schallfeldsynthese für Musik, Springer: Cham 2023, Kapitel „Biologie des Gehörs“ und „Psychoakustik“