Musik hat die außergewöhnliche Fähigkeit, das Alter zu überwinden und Menschen aller Generationen Freude und Inspiration zu bringen. Musikgeragogik ist ein spezialisierter Ansatz, um die Kraft der Musikpädagogik für das Wohlbefinden und die Bereicherung älterer Menschen zu nutzen. In diesem Artikel tauchen wir in das einzigartige Feld der Musikgeragogik ein und beleuchten die Vorteile bei der Linderung altersbedingter Krankheiten wie Demenz, aber auch die Herausforderungen bei der musikgeragogischen Arbeit mit Senior’innen.
Was ist Musikgeragogik?
Der Name Musikgeragogik weist darauf hin, dass das Fachgebiet an der Schnittstelle von Musikpädagogik und Geragogik angesiedelt ist. Geragogik bezieht sich im Allgemeinen auf das Management des Lehrens und Lernens älterer Erwachsener und ist zu einem bekannten Begriff für Bildungsprozesse im Alter geworden.
Laut Sinsch (2023) werden bedarfsorientierte Methoden der Musikgeragogik bereits in Altenheimen, Krankenhäusern, Bildungseinrichtungen etc. eingesetzt. Dabei reicht das Spektrum von Angeboten für engagierte, gesunde Senior’innen bis hin zur musikalischen Begleitung von Demenzkranken. Neben musikpädagogischen Grundlagen fließen auch Erkenntnisse aus den Nachbardisziplinen Alterspsychologie, Sozialarbeit, Musiktherapie und Medizin (Geriatrie) ein.
Vorteile von Musikgeragogik
Wenn Erwachsene später im Leben Musikunterricht nehmen, sei das nach Geragogik-Forscherin Schoen (2018) zu 100 Prozent ihre Entscheidung. Im Allgemeinen entscheiden sich Senior’innen für den Musikunterricht, weil sie schon seit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten davon träumen.
Das Alter wird mittlerweile individuell betrachtet und entspricht nicht unbedingt gesellschaftlichen Attributen wie dem Rentenalter, das ab 65 Jahren angesetzt wird. Künstler’innen wie Cher oder Mick Jagger, die auch im hohen Alter noch auf der Bühne stehen, tragen dazu bei, das Altersbild in der Gesellschaft neu zu definieren. Neben der Freude am Musizieren sind diese Schlüsselkomponenten für die angewandte Musikgeragogik von besonderer Bedeutung:
- Kognitive Beteiligung
- Verbesserung der Gedächtnisleistung: Die geriatrische Musikpädagogik umfasst Aktivitäten, die das Gedächtnis anregen und Senior’innen helfen, ihre kognitiven Funktionen zu erhalten.
- Neuroplastizität: Musikalisches Lernen kann die Fähigkeit des Gehirns fördern, sich anzupassen und neue Verbindungen zu bilden.
- Soziale Verbindungen
- Gruppenaktivitäten: Musikgeragogik umfasst Gruppenaktivitäten, die die soziale Interaktion und das Gemeinschaftsgefühl der Senior’innen fördern.
- Ensemble-Spielen: Musikalische Gemeinschafts-Erlebnisse wie das Musizieren in einem Chor oder Ensemble bieten Senior’innen die Möglichkeit, sich gemeinsam kreativ auszudrücken.
- Maßgeschneiderter Unterricht
- Angepasster Lehrplan: Musikgeragogik-Dozent’innen passen den Lehrplan an die Bedürfnisse und Interessen älterer Personen an, um eine positive und angenehme Lernerfahrung zu gewährleisten.
- Flexible Lernformate: Da die geriatrische Musikpädagogik die unterschiedlichen Bedürfnisse älterer Menschen berücksichtigt, bietet sie oft flexible Lernformate an, einschließlich Einzelunterricht und Gruppenunterricht.
Herausforderungen geriatrischer Musikpädagogik
Als Klavierlehrerin für Senior’innen berichtet Schoen (2023) zunächst von den vielen Vorteilen, die die Arbeit mit älteren Generationen im Vergleich zu einer jüngeren Klientel bietet. Demnach bringen Senior’innen mehr von folgenden Aspekten mit:
- Zeit
- Motivation
- Monetäre Mittel
- Dankbarkeit
- Weisheit
Um jedoch eine barrierefreie und effektive Lernatmosphäre zu gewährleisten, sollten diese Herausforderungen bzw. (physiologischen) Einschränkungen seitens der Senior’innen besonders berücksichtigt werden:
- Sehvermögen: Bei eingeschränktem Sehvermögen können größere Notenblätter oder Liedtexte von Vorteil sein.
- Gehör: Bei Bedarf mehr mit Gestik unterstützen und Lautstärke als auch Tempo der Anweisungen anpassen.
- Gedächtnis: Viele ältere Erwachsene wissen Wiederholungen zu schätzen und haben Geduld dafür.
- Feinmotorik: Am Anfang kann es schwierig sein, die Finger zu kontrollieren und die Fingerfertigkeit zu entwickeln. Senior’innen werden ermutigt, vor dem Schlafengehen zu üben, da der Schlaf dazu beiträgt, neue feinmotorische Fähigkeiten im Langzeitgedächtnis zu speichern.
- Weitere Gesundheitsprobleme: Krankheiten wie Arthritis erschweren es älteren Erwachsenen, ihre Finger zu bewegen. Das Klavierspielen wird jedoch empfohlen, um die Beweglichkeit zu verbessern und die Schmerzen der Arthritis zu lindern. Lehrende sollten die Musikeinheiten an die Bedürfnisse ihrer Schüler’innen anpassen, indem sie bestimmte Noten weglassen und Rhythmen vereinfachen.
Mehr Lebensqualität dank Musikgeragogik
Mehr als die Hälfte der 80-Jährigen ist davon überzeugt, dass es möglich ist, im Alter künstlerische Fähigkeiten zu erwerben oder zu entwickeln (Sinsch, 2023). Neben der Motivation, sich durch das Spielen eines Instruments oder die Teilnahme an einem Chor künstlerisch zu betätigen, sind soziale Kontakte oder persönlichkeitsbildende Elemente für die ältere Generation wichtig. Auch das gemeinsame Musizieren und Singen mit Jüngeren, zum Beispiel den Enkelkindern, spielt dahingehend eine zentrale Rolle. Regelmäßiger Musikunterricht für ältere Menschen kann wunderbare Vorteile mit sich bringen:
- Emotionales Wohlbefinden: Musikalische Aktivitäten können sich positiv auf das emotionale Wohlbefinden von Senior’innen auswirken, indem sie das Gefühl der Isolation verringern und ein Gefühl der Erfüllung vermitteln.
- Körperliche Gesundheit: Rhythmische Bewegungen und das Spielen von Instrumenten können die motorischen Fähigkeiten und die Koordination verbessern.
- Lebensqualität: Erfolgserlebnisse und Freude an der Musik tragen zu einer verbesserten Lebensqualität für Senior’innen bei, die sich mit Musikgeragogik beschäftigen.
Abhilfe bei Demenz (Alzheimer)
Musikalische Arbeit kann älteren Menschen mit Demenz oder anderen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen helfen, ganzheitlich mit ihren Ressourcen und Kompetenzen wahrgenommen zu werden. Gómez-Gallego et al. (2021) stellten in einer dreimonatigen Studie mit 90 Bewohner’innen eines spanischen Pflegeheims mit leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Krankheit fest, dass die Hirnareale für Kognition, Verhalten und Funktion durch regelmäßiges Musizieren gefördert wurden.
Dies deckt sich laut Sinsch (2023) mit zahlreichen Beobachtungen, die immer wieder in Pflegeheimen und Kliniken gemacht werden: Selbst bei fortgeschrittener Demenz, die mit Sprachverlust einhergeht, sind die Patient’innen in der Lage, komplette Lieder fehlerfrei zu singen. Dass Musik eine wichtige Ressource gegen den Verfall des Gehirns sein kann, zeigt auch dieses YouTube-Video eines demenzkranken Bewohners. Dieser blüht allein durch das Hören seiner Lieblingsmusik aus Jugendtagen auf.
Musikalische Aktivitäten geben im späten Erwachsenenalter Sinnorientierung, konkrete Lebenshilfe, fördern und schaffen neue soziale Kontakte. Die Musikgeragogik erkennt an, dass Senior’innen, wie Menschen jeden Alters, weiterhin die Freude am Lernen und Musizieren erleben können. Sie geht auf die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen älterer Lernender ein. Darüber hinaus bietet sie einen maßgeschneiderten Ansatz, der das kognitive, emotionale und soziale Wohlbefinden fördert.
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Quellen
- Hartogh, T. (2005). Musikgeragogik – ein bildungstheoretischer Entwurf. Wissner.
- Schoen, G. (2018). Geragogy! The joys of teaching older adults. American Music Teacher, 68(2), 16–19. https://www.jstor.org/stable/26537771
- Sinsch, S. (2023). Music educational processes in old age: An introduction to the young academic discipline of music geragogy, Journal for the Interdisciplinary Art and Education, 4(1), 11–22.